Sonntag, 12. Juni 2011

Mein Leben, von dem er nichts weiss.

"Es ist still. Sie hat die Stille noch nie gemocht, doch jetzt scheint die Stille unerträglich zu sein. Sie schaut auf das Foto, das sie mit beiden Händen fest umklammert. Für die Person auf dem Bild hat sie vor langer Zeit Liebe empfunden. Heute weiss sie nicht mehr, wie es ist Liebe zu empfangen, wie es ist, Liebe zu zeigen.
Was heisst schon "Liebe"? Es ist nur ein Wort. Ein Wort ohne Bedeutung. Ein Wort, wie alle anderen es auch sind. Unnützlich, sinnlos, falsch, verlogen.
Sie hat gedacht, dass eine Liebe zu ihr für immer halten würde. Für immer. Für immer und ewig.
Und auch das waren nur Worte.
Wie sie Worte verabscheute, wie sie Worte hasste. War das einzige Gefühl, das sie noch besitzt, Hass?`Ist es wirklich das einzige Gefühl, das sie noch fühlen kann und will?
Und dann wird endlich die Stille unterbrochen."



Ich lege den Stift zu Seite und wende das Blatt auf die Rückseite. So, dass er nicht sehen kann, was ich geschrieben habe.
"Süße, was machst du da?", fragt mich mein Mann.
Ich halte seinen missbilligten Blick stand und antworte: "Ich schreibe."
Er guckt mich noch einmal kurz an, dann dreht er sich um und meint beim Weggehen: "Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du damit aufhören sollst? Anstatt irgendwelche Scheiße aufzuschreiben, die niemand lesen will, solltest du etwas Vernünftiges machen."
Er weiss nicht, dass es mein Leben ist, das ich aufs Blatt bringe. Mein Leben, meine Gefühle und Geheimnisse, meine Wünsche und Träume.
Nun habe ich es endgültig satt. Er behandelt mich so, als wäre ich ein Mistsück und für nichts zu gebrauchen. Ich will nicht dauernd angemotzt werden, sondern auch mal hören, dass ich etwas gut gemacht habe. Ich bin dazu da, dass er seine schlechte Laune an mir auslassen kann. Für ihn bin ich selbstverständlich, doch ich kann nicht mehr. Ich will meine Wünsche und meine Träume verwirklichen. endlich das machen, was ich für richtig halte und nicht das, was er für richtig hält.
Und dann, als er weg ist, stehe ich auf und packe meine Sachen zusammen. Am Schluss lege ich alle beschriebenen Seiten, in denen ich und er so oft vorkommen auf seinen Arbeitstisch. Ich sage ihm nicht, dass ich ihn hasse, denn er soll es lesen. Er soll lesen, was er mir alles angetan hat, was er mir alles vorgeschrieben hat und wie viel er mir genommen hat. Er soll es lesen, wenn ich weg bin, fort. Für immer. Für immer und ewig.



Er merkt nicht, dass ich die Tür öffne und gehe. Es ist die Freiheit, die ich entdecke, die ich liebe. Kein Hass, nur Liebe.

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